Bahnfahren

Diese romantisierte Vorstellung vom Bahnfahren, wie sie Interrail-fahrende Backpacker und Althippies erinnern, bleibt ein frommer Wunsch des Bahnfahrers an Rhein und Ruhr. Und auch wenn die Werbung des örtlichen Verkehrsbetriebs mir Ruhe und Entspannung statt Hupkonzert und Staugefahr verspricht, für mich ist jede Bahnfahrt ein Test meiner Belastungsfähigkeit.

Klar, ich könnte mich wie die anderen in der 701  einfach gehen lassen und jeden annießen, wegrempeln und im Türbereich der Straßenbahn stehen bleiben mit diesem Ich-bin-halt-verrückt-und-hab-Ausgang-Blick im Gesicht. Aber nein, ich will ja die Welt verbessern.

Heute hat mir eine miefige alte Frau ihre dreckige linke Hand auf den Oberschenkel gelegt als sie sich hinsetzen wollte. Einfach so, wie auf die Armlehne eines alten grün-gemusterten Ohrensessels mit Eichenholzunterbau. Dann blickte sie mich seitlich an und lächelte. Ihre Zahnzwischenräume (ein Hoch an Sylvie van der Vaart Meis an dieser Stelle) waren tiefschwarz. Noch 30 Minuten später spürte ich ihre Hand auf meinem rechten Bein und spürte das Bedürfnis meine Hose zu verbrennen und in Embyronalstellung in der Dusche zu liegen bis das Wasser auf meiner Haut wehtun würde.

Am schlimmsten ist es, wenn ich einen freien Tag habe. Jahrelangen Drills zur Folge bin ich darauf programmiert, mindestens einmal am Tag das Haus zu verlassen. Sonst plagt mich ein schlechtes Gewissen, dass in einer Fressorgie endet die erst mit dem nächsten Arbeitstag wieder ein Ende findet. So bin ich zu den unwirklichsten Zeiten mit der Bahn unterwegs, z.B. zwischen 9.00 und 12.00 Uhr mit den Rentnern oder gegen 14.00 Uhr zum Schulschluss.

Oft denken Menschen an vergangene Tage und wünschen sich ihre Jugend zurück. Dagegen empfehle ich entweder die 707 morgens um 8.00 Uhr oder die 712 um 14.00 Uhr. Wieso? Gerne:

Die 707 um 8.00 Uhr: Streusalzflecken und Splitt-Klumpen um die Bahntüren bedeuten uns die kalte Jahreszeit. Beschlagene Fenster und an jeder Haltestelle wiederholte Durchsagen, die Türbereiche doch bitte freizuhalten. Schlaubergerische Neu-Akademiker ergreifen Partei für stille Mäuse und Omis die vor der Haltestelle „Uni Ost“ aussteigen wollen. „Hallo! Da vorne einmal  AUSSTEIGEN, damit die Person hier herauskann! Meeeeine Güte, ist das denn so schwer?“. Rucksäcke, die einem die noch leere Magengrübe andrücken, über Tests diskutierende Panikschieber, genervte Dozenten. An der Endstation bleiben To-Go-Kaffeebecher zurück, die letzte Tropfen Milchkaffee über die Rückfahrt hinweg in Schlieren auf dem Bahnfussboden verteilen.

Im Sommer dann ähnliche Szenen nur ohne Streusalz und Splitt. Dafür dann mit verschwitzten und behaarten Achseln, in die Oberschenkel pieksende Sitze und gefaltete Fächer aus Karo-Papier, die ab dem Hauptbahnhof in der Bahn zurückbleiben.

Die 712 um 14.00 Uhr: die Schüler der örtlichen Gymnasien haben Schulschluss. Daunenjacken mit Fellbesatz, Longchamp-Taschen, Timberland-Boots, Abercrombie-Skinny-Jeans und iPhones soweit das Auge reicht. Gespräche über Whatsapp-Unterhaltungen vom Vortag und Alkoholbestellungen bei volljährigen Geschwistern zum Freitagabend. Vereinzelt unschuldig dreinblickende Streber mit festen Zahnspangen die in ein paar Jahren auf genau den selben Zug aufspringen werden. Spätestens wenn ihre Eltern sich scheiden lassen wird der perfekte Zeitpunkt für ein Umstyling gekommen sein. Einem seit Jahren von Scheidungskindern verwendetem Kunstgriff zum Dank werden mit Sicherheit ausreichend finanzielle Mittel zur Beschaffung der Markenartikel vorhanden sein.

Eines Tages werde ich sie alle anschreien. Alle!