Alexis

Es fällt mir leichter jemanden zu hassen, wenn ich seine Stimme kenne. Eine schrille oder dumpfe Stimme gibt mir einen Anhaltspunkt, eine Person kacke zu finden. Ein Pfeifen in der Stimme, ein Dialekt oder Akzent. Jemand, der Fümmenfünfzig statt Fünfundfünfzig oder Dreiviertelsieben oder Broiler oder sonstigen schein-charmanten Quatsch sagt.

Im dritten Semester habe ich an einem Wochenendseminar zum Thema Gender-Mainstreaming teilgenommen. Das war eindeutig eine dieser Veranstaltungen, die ich nur für den Leistungsnachweis besucht habe. Ich versprach mir von einem dreitägigen Intensivkurs weniger seelischen Schaden, als durch den Besuch einer wöchentlich stattfindenden Veranstaltung bei der ich, wenn ich am ersten Tag nicht schnell genug aus dem Seminarraum verschwunden wäre, wieder einen nervigen Sitznachbar ergattern würde, der sich für die folgenden sechs Monate an mich heften und Zusammenfassungen mit mir schreiben wollte, die ich nie zu schreiben beabsichtigt hätte.

Die Seminarleiterin hatte ich mir vorab als gedreadlockte Freizeit-Yogalehrerin und Vollwert-Halbtags-Mama mit selbstbestimmtem indischen Zweitnamen vorgestellt. Melanie, die letztendlich das Seminar hielt, schien jedoch vollkommen normal. Irgendwelche Jeans, irgendwelche Sportschuhe, irgendein (buntes und/oder bedrucktes) Oberteil, dazu rötlich-brünette und mittellange Haare. Sie sah aus wie viele moppeligen Mädels ihrer Art, die nicht sonderlich auffallen und erfreulicherweise dadurch nicht stören. Tatsächlich hatte Melanie aber eine Unart, die das Seminarwochenende für mich zur Zerreißprobe machte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten aber es gibt tatsächlich Menschen, die eine Formulierung in jedem einzelnen ihrer Sätze einbauen. Irgendwie so war es bei ihr.

„Das Gender-Mainstreaming kann irgendwie so als Konstrukt gesehen werden. So irgendwie zur Realitätsbewältigung. Um die Welt zu begreifen und irgendwie so die Zusammenhänge für sich klar zu kriegen. Gleichzeitig kann man mit der Geschlechtszuschreibung aber irgendwie auch sagen, dass viele Menschen so ihre eigene Identifikation begreifen lernen um sich irgendwie so aufgehoben zu fühlen.“

Alexis aber hat während unseres dreißigminütigen Geschäftstermins kein Wort gesprochen. Sie wollte sich die Location einmal genauer ansehen, um für ein wahnsinnig tolles Modeunternehmen den wahnsinnig wichtigen sesselpupsenden CEO dort exklusiv dinieren zu lassen. Ihre Gefolgschaft von vier Blondinen (von denen ich eine aufgrund ihres ostdeutschen Dialekts als dumm abstempelte) lief brav mit mir durch die Veranstaltungshallen.

Alexis, ihr Blackberry zwischen Schulter und Ohr geklemmt, lief hinterher. Plateau-Sandalen, Schlaghose, durchsichtige Bluse, goldenes Kettchen, schweres goldenes Armband – alles Designerstücke. Blonder Kurzhaarschnitt und eine Sonnenbrille im Haar. Es war November. 

Während der kompletten Besichtigung schenkte sie weder mir, noch dem historischen Gebäude auch nur das geringste bisschen Aufmerksamkeit. Vielmehr war sie in die Telefonkonferenz an ihrem Blackberry vertieft. Dabei klimperte sie mit der linken Hand auf einem iPad herum und umklammerte mit drei Fingern ihrer rechten Hand ein iPhone.

Die Besichtigung ging dem Ende zu und es musste eine Entscheidung getroffen werden. Abendveranstaltung im fünfstelligen Euro-Bereich ja oder nein? Die vier Blondinen waren begeistert, hatten aber keine Entscheidungsmacht. Die Königin musste befragt werden. Auf den fragenden Blick einer ihrer Untertaninnen hin hielt Alexis affektiert den linken Daumen hoch. Mittlerweile hatte sie sich auf einem Hocker platziert. Leer in den beeindruckend schönen Raum guckend, gelangweilt auf ihrem iPad tippend. Sie sprach kein Wort, auch nicht am Telefon. „Alexis sagt top.“, übersetzte die Blondine.

Plötzlich kam uns ein schreiendes Kind entgegen. Alexis musterte es abfällig und hielt schnell eine Hand an die Sprechmuschel ihres Blackberry. Dann blickte zur Seite und schwieg unbehelligt fort.

„Vielen Dank das Sie sich die Zeit für uns genommen haben.“, sagte eine der Blondinen höflich in den Raum und reichte mir die Hand. Alexis erhob sich von dem ledernen Hocker und verließ mit gesenktem Blick das Meisterwerk der Architektur.